Heute war die letzte Online-Session des Projekts „Europe-So-Close„. Das Projekt ist eigentlich revolutionär: über 8 Sitzungen zu vier Oberthemen (Daseinsvorsorge, EU-Haushalt, Datenschutz, Jugendarbeitslosigkeit) wurden Mitglieder des Europäischen Parlaments mit Interessensvertretern an einen virtuellen Tisch gebeten, eine Stunde lang wurde sich ausgetauscht, Themen kontrovers diskutiert und die Bürger Europas konnten direkt an ihre Vertreter ihre Fragen und Ideen loswerden. Eigentlich eine tolle Idee, oder?
Wenn man sich die Liste der ReferentInnen anguckt, dann war das Projekt ein voller Erfolg, denn unser Projektteam hat es geschafft, zu allen Themen diejenigen auszuwählen, die direkt am Geschehen dran waren und diese kommentieren konnten. Wir haben als Team den Kontakt aufgenommen zu Hunderten von Blogs, Twitterern und Facebook-Gruppen und so die Sitzungen immer wieder angeteasert. Trotzdem lässt mich das Projekt aber auch etwas ratlos zurück, denn die Diskussionen in den virtuellen Webinaren fanden fast ausschließlich zwischen den Experten statt, die Bürger Europas haben eher passiv zugeschaut.
Am besten hat es eine unserer Mitarbeiterinnen heute auf den Punkt gebracht: „Ich wußte eigentlich gar nicht, was ich fragen soll.“ Sie ist jung, hat studiert, gehört zu den Europäerinnen, die wie selbstverständlich in anderen Ländern Europas arbeiten und leben wollen, sie ist politisch interessiert und macht sich sicherlich genauso wie die Abgeordneten viele Gedanken, wie man die Krise Europas lösen könnte. Aber doch baute sich in den Sessions eine seltsame Distanz auf, obwohl die MEPs alle sehr zugänglich waren und sich auf das Experiment der virtuellen Sitzungen eingelassen haben. MEPs wie Franziska Keller, Jutta Steinruck, Axel Voss, Jürgen Klute, Jens Geier, Othmar Karatas, Eva Lichtenberger, Sabine Verheyen, Josef Weidenholzer, Thomas Händel oder die Mitarbeiter von Amelia Andersdotter oder Evelyn Regner waren immer freundlich und zu Diskussionen bereit.
Woran lag es nun? Ich versuche mich mal an ein paar erklärenden Punkten:
Wer mit Europa ernsthaft diskutieren will, muss sich ernsthaft einarbeiten – und das kostet Zeit und Mühe, die europäische Bürger nicht aufbringen wollen.
Ich hatte das Vergnügen, selber eines der acht Sitzungen moderieren zu dürfen, zum Thema Datenschutz. Und obwohl ich mich eigentlich recht gut auskenne im Datenschutz, musste ich mich natürlich auch vorbereiten. Will man von plakativen Fragen à la „Bist Du für mehr oder weniger Datenschutz?“ absehen, dann muss man sich tief in die Materie der Gesetzesvorhaben einarbeiten, man muss die Positionen der Parteien und der Abgeordneten kennenlernen, die unterschiedlichen Rollen von Parlament, Rat und Kommission kennen, verstehen, wie der Gesetzgebungsprozess funktioniert.
Das ist auf nationaler Ebene schon nicht einfach, aber vermutlich den meisten politikinteressierten Menschen geläufig.Aber auf europäischer Ebene ist es schon für ein einziges Themenfeld sehr viel schwieriger, weil wesentlich mehr Akteure involviert sind, es im Parlament keine klare Trennung in Opposition und Regierung gibt und vieles mehr. Für die europäischen Bürger ist es wesentlich schwieriger, sich über europäische Politik zu informieren als über die Politik in den Hauptstädten der EU-Mitgliedsstaaten. Dabei liegt es nicht am fehlenden Informationen, sondern eher an der Tatsache, dass zu jedem Thema unzählige Informationsportale existieren. Es liegt also weniger an der Intransparenz Europas, sondern eher am Information-Overkill in Europa.
Dies wird durch die sozialen Medien noch verschärft. Das Europäische Parlament hat, wie soll das auch anders sein, einen Twitter-Account in fast jeder Amtssprache der Europäischen Union. Die Abgeordeten twittern. Die Kommissare twittern. Die Mitarbeiter der Kommission twittern. Die unzähligen EU-Institutionen, wie der Rat der Regionen twittern. Es ist also sehr einfach möglich, direkt den Draht zu den Mitarbeitern zu bekommen, die für die jeweilige Institut die Kommunikation verantworten. Die Mitarbeiter sind auch nach meiner Erfahrung alle sehr dialogbereit gewesen, haben gehelfen die Sessions bekannt zu machen. Aber wenn man die europäische Twittersphäre beobachtet, fällt es auf, dass dort wenige sind, die aktiv zuspitzen, Thesen vertreten. Die europäische Öffentlichkeit in den sozialen Netzwerken ist weitestgehend unter sich, so scheint es.
Nicht der Dialog, sondern der Protest bestimmt das Bild von Europa – dank Netzpolitik.org und Lobbyplag
Wenn über europäische Themen diskutiert wird, dann immer als Abwehrmaßnahme gegen Brüssel. Bestes Beispiel sind dafür die ACTA-Proteste und deren Mobilisierung auf Plattformen wie netzpolitik.org. Ein aktuelles Beispiel ist die EU-Richtlinie zur Vergabe von EU-Dienstleistungskonzessionen, die aufgrund einer Europäischen Bürgerinitiative entscheidend verändert worden ist.
Protest ist nicht falsches, aber sie ist ein Zeichen dafür, dass die (digitale) Zivilgesellschaft von der Komplexität Europas überfordert ist. Kaum jemand zum Beispiel berichtet darüber, dass das Europäische Parlament sich bei dem Streit um die digitale Überwachungspraxis der Amerikaner sich massiv in Position gebracht hat, viel stärker noch als sich die meisten Regierungsvertreter der Mitgliedsstaaten es sich trauen würden.
Leider ist es so, dass gerade die Initiativen sehr viel Aufmerksamkeit bekommen, die wie Lobbyplag noch anti-europäischen Ressentiment vertiefen, ohne selber einen konstruktiven Dialog zu führen. Ich halte es für sinnvoll, wenn man die Gesetzesvorhaben der Europäischen Union dahingehend transparenter macht, dass man wie zum Beispiel im Fall der Datenschutzrichtlinie die Vorschläge von Lobbyisten, NGOs und Unternehmen veröffentlicht. In einer Demokratie ist es wichtig und richtig, dass die Politik auf die Kritik von außen reagiert und das geht nur, wenn Interessen gleichberechtigt zu Wort kommen. Die Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament hat ein solches System aber schon seit Jahren in Betrieb, es wäre daher sinnvoller gewesen zu überlegen, wie man ein solches System verbessern kann, die Daten besser visualisieren, den Zugang zu den MEPs zu gestalten, die Argumente die hinter den Änderungsvorschlägen sich versammeln, klarer zu machen. Das alles ist ziemlich harte Arbeit und führt sicherlich nicht zu Grimme-Nominierungen. Aber es würde sich lohnen.
Für mich war das einer der ernüchterndsten Erfahrungen bei Europe-So-Close: wenn man den Menschen, die lautstark für oder gegen ein politisches Vorhaben in Brüssel sind, die Möglichkeit bietet, direkt mit den jeweiligen MEPs über die Anliegen zu sprechen, dann machen sich einige still und heimlich davon. Je lauter eine Lobbygruppe öffentlich über „die da in Brüssel“ herziehen, desto weniger haben sie Argumente, um sie im direkten Gespräch auszutauschen.
Virtuelle Dialoge sind wichtig, aber der direkte Kontakt von Bürgern und Politikern lässt sich nicht virtualisieren
Wir hatten Mittwoch letzter Woche Hannes Swoboda bei uns im ikosom-Büro. Der Fraktionsvorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion hatte sich Zeit genommen, um sich über Kreativwirtschaft in Berlin zu informieren. Er kam zu uns auf die Dachterasse, aß Pizza und trank ClubMate.
Es gab keinen Livestream, kein Chat, keine Tweets. Ich hatte aber den Eindruck, dass das Gespräch mindestens genauso tiefgehend war wie die Gespräche im virtuellen Raum. Die Frage, die sich mir stellt, ist: Wie kann der virtuelle Raum des Internets den politischen Dialog verbessern, partizipativer und transparenter machen. Vielleicht müssen nicht die Formate des analogen Raums auf den digitalen Raum übertragen, sondern eigene politische Formate entwickeln.
Tilo Jung ist das mit seiner Youtube-Serie „Jung&naiv“ auf bezaubernde Weise gelungen – vielleicht müsste man das ganze für Europa in diese Richtung denken. Fragen stellen und zwar so lange, bis man Antworten bekommt.
In diesem Sinne: danke ans gesamte Europe-So-Close-Team und an David Röthler als Projektleiter, dass er uns von ikosom miteinbezogen hat!